VR hält Einzug in die Neurorehabilitation
VR steht für virtuelle Realität. Seit Jahren boomen Computerspiele, die ihre Anwendenden in künstliche Welten entführen. Eine so genannte VR-Brille sorgt dafür, dass die Spielenden tief in diese Welt eintauchen. Moderne Technik projiziert teilweise ein fotorealistisches Bild dieser Welt in die Brille.
Seit einiger Zeit hält diese Technik auch Einzug in die Neurorehabilitation. Erste Kliniken bedienten sich bereits auf dem Markt der Computerspiele und erkannten schon da die Chancen dieser neuartigen Technik. Mittlerweile nimmt die Zahl der Unternehmen, die therapeutische Anwendungen entwickeln, stetig zu.
Motorische Verbesserungen nachgewiesen
Noch ist die Studienlage dünn, doch die Fachleute sind sich einig: Training in der virtuellen Realität birgt großes Potenzial. Das gilt insbesondere für die Arm- und Handrehabilitation. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass Patientinnen und Patienten, die teilweise VR-unterstützt trainierten, sich in ihrer Motorik deutlicher verbesserten als diejenigen, die konservative Therapien erhielten.
Der Wirkungserfolg scheint hier leicht erklärbar: Fortschritte in der Armrehabilitation erzielen Betroffene vor allem durch eine hohe Anzahl von Wiederholungen bestimmter Bewegungen. Die jedoch sind anstrengend, es sei denn, aus Training wird plötzlich Spiel, und man lenkt einen Drachen auf seinem rasanten Flug über Island.
Virtuelles Orientierungstraining
VR-Therapie bietet aber nicht nur in der Motorik neue Möglichkeiten. Etwa 20 Prozent der Schlaganfall-Betroffenen haben längerfristig oder dauerhaft Orientierungsprobleme. Um ihnen die Navigation im Raum wieder komplett zu ermöglichen, bräuchten sie ein engmaschiges Wegetraining. Das ist – professionell begleitet durch Neuropsychologen oder Ergotherapeutinnen – kaum möglich.
In Berlin hat eine Gruppe von Forschenden, Technikern und Therapeutinnen den „PAN-Assistant“ entwickelt und sammelt gerade Erfahrungen mit diesem Trainingsprogramm. Im Zentrum für Post-akute Neurorehabilitation verbringen die Bewohnerinnen und Bewohner bis zu anderthalb Jahre. Viele von ihnen leiden unter Orientierungslosigkeit nach einem Schlaganfall und finden sich auf dem großen Gelände schwer zurecht.
Das Programm ermöglicht den Betroffenen, das Gelände virtuell zu erkunden. Aufgabenspezifisch gehen sie bestimmte Ziele ab und trainieren dabei spielerisch nach und nach ihren Orientierungssinn. „Auch stark beeinträchtigte und ältere Patienten sind diesen Therapien gegenüber aufgeschlossen“, berichtet das Projektteam.
Arm- und Gangrehabilitation im Fokus
Zwei „Klassiker“ der Neurorehabilitation sind die Gangrehabilitation und die Arm- und Handrehabilitation. Für beides gibt es aufwändig erstellte Behandlungsleitlinien, an denen viele Mediziner, Therapeutinnen, Fachgesellschaften und Patientenorganisationen wie die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe beteiligt waren. Die federführenden Neurologen für beide Leitlinien, Prof. Christian Dohle (Berlin, Gangrehabilitation) und Prof. Thomas Platz (Greifswald, Armrehabilitation) stellten die Leitlinien und neue Empfehlungen vor.
Leitlinie wird überarbeitet
Die aktuelle Leitlinie zur Gangrehabilitation (ReMoS) stammt von 2015. Aktuell wird sie überarbeitet, in ein bis zwei Jahren ist mit einer neuen Version zu rechnen. Die Überarbeitung ist dringend notwendig, weil immer mehr Hersteller mit immer neuen technischen Möglichkeiten auf den Markt drängen. Computergesteuerte stationäre Gangtrainer, tragbare Exoskelette und Elektrostimulatoren – die Bandbreite der Möglichkeiten wächst stetig, und mit ihr die Ahnung, dass diese Systeme helfen könnten. Doch wie genau, wem und in welchem Stadium, darüber wissen wir kaum etwas.
Bei der Rehabilitation des Gehens stehen vier Ziele im Vordergrund:
- grundlegend zunächst die Gehfähigkeit wiederzuerlangen,
- dann die Steigerung der Gehgeschwindigkeit,
- die Ausdauer und
- die Balance/Sicherheit.
Für alle vier Bereiche gibt die ReMoS-Leitlinie unterschiedliche Therapie-Empfehlungen. Zur Erlangung der Gehfähigkeit ist eine hohe Anzahl an Schritten erforderlich. Deshalb empfiehlt die Leitlinie in dieser ersten Phase den Einsatz eines Gangtrainers. Im zweiten Stadium wird das Training auf dem Laufband empfohlen. Das eignet sich vor allem, um die Gehgeschwindigkeit zu steigern. 0,9 Meter pro Sekunde sind ein Zielwert. Damit passiert man die meisten Fußgängerampeln in Berlin bei Grün.
Tipps für die Wahl der Therapiepraxis
Potenzial für die Verbesserung der Gehgeschwindigkeit könnte eine neue Methode aus den USA haben. „InTandem“ ist ein System, bei dem Anwendende Musik auf Ohrhörern hören, die sie über Kontakte in ihren Schuhen durch ihren Gang beeinflussen können. Auf diese Weise sollen sie musikalisch zu höheren Leistungen motiviert werden. In einer ersten Studie erzielten die Patienten tatsächlich bessere Werte als Betroffene nach konservativem Training.
Um die Länge der Gehstrecke oder die Ausdauer zu steigern, eignet sich ebenfalls das Laufband. Ergänzend ist auch das Ergometer (Fahrrad) ein gutes Trainingsgerät, weil es das Herz-Kreislauf-System trainiert. Für Patientinnen und Patienten in der Nachsorge bedeutet das, sie sollten bei der Wahl ihrer Physiotherapie-Praxis darauf achten, dass sie bestenfalls beides – Laufband und Ergometer – im Bestand hat. Ein weiterer Tipp: eine aktuelle Studie hat erneut bestätigt, dass intensives Training in Intervallen wirksamer ist ein stetes, aber moderates Training.
Sicherheit beim Gehen kommt von allein
Die Balance/Sicherheit – das vierte große Ziel in der Gangrehabilitation – kommt übrigens von ganz allein, wenn man an den drei ersten Zielen intensiv arbeitet. Das jedenfalls legt die Recherche der Leitlinien-Autoren nahe. Sie fanden keine Hinweise darauf, dass Betroffene von speziellem Gleichgewichtstraining profitieren. Das intensive Gangtraining, kombiniert mit häufigen und unerwarteten Richtungswechseln, scheint dieselben Effekte zu haben.
Dass Leitlinien häufig der (technischen) Entwicklung hinterherlaufen, ist ein Manko, das kaum zu verhindern ist. Ein zweites wurde in einer Umfrage unter Physiotherapie-Praxen in Deutschland deutlich. Nur die Hälfte der Therapeutinnen und Therapeuten weiß überhaupt, dass es eine solche Leitlinie zur Gangrehabilitation mit sehr konkreten Therapie-Empfehlungen gibt. Das umfangreiche Dokument ist in der täglichen Arbeit wohl auch schwer zu händeln. Doch es gibt eine Online-Version mit übersichtlichen Empfehlungen.
Eigentraining bei Armparese wichtig
Die Leitlinie zur Armrehabilitation ist deutlich aktueller. Das Training sollte so schnell wie möglich nach dem Schlaganfall beginnen, 30 Minuten am Tag sollten es schon sein. In den ersten drei Monaten lassen sich die größten Erfolge erzielen. Doch auch lange Zeit nach dem Schlaganfall sind durch intensives Training Erfolge weiterhin möglich. Und: Auch in der Arm-Rehabilitation gibt es eine Dosis-Wirkungs-Beziehung.
Dem Eigentraining kommt deshalb eine große Bedeutung zu, weil es höhere Intensität ermöglicht. Allerdings sollte es ein „adaptiertes Training“ sein, so Prof. Platz. Es sollte sich an den Möglichkeiten der Betroffenen orientieren, aufgaben- und zielorientiert sein. Eine therapeutische Anleitung scheint deshalb unabdingbar. An der Erstellung der Leitlinie war auch die Deutsche Schlaganfall-Hilfe beteiligt. Im Interview mit der Stiftung stellt Prof. Thomas Platz wesentliche Empfehlungen der Leitlinie vor.
Aphasie braucht Intensivtherapie
Ein anderes Thema: die Aphasie. Etwa ein Viertel der Schlaganfall-Patientinnen und -Patienten ist von einer Sprach- oder Sprechstörung betroffen. In manchen Fällen bildet sich die Störung in den ersten Wochen zurück, viele Betroffene leiden jedoch unter einer chronischen Aphasie. Ein Jahr nach dem Schlaganfall, so zeigen Erhebungen, gibt es keine Hoffnung mehr auf spontane Verbesserungen. Sie sind weiterhin möglich, jedoch nur durch Unterstützung der Logopädie, am besten als Intensivtherapie.
Fachleute empfehlen, Betroffene sollten 10 Stunden wöchentliche Sprachtherapie erhalten, um relevante Fortschritte zu erzielen. Die Realität sieht anders aus: Durchschnittlich eine halbe Stunde Therapie erhalten Aphasiker in Deutschland. Die Weigerung vieler Krankenkassen zur Kostenübernahme intensiverer Therapien ist hinlänglich bekannt. Doch Prof. Robert Darkow (Hochschule Graz) hat einmal untersucht, welche weiteren Gründe es dafür geben kann. Schließlich schöpfen Patientinnen und Patienten ja nicht einmal das Kontingent aus, das im Kostenrahmen der gesetzlichen Kassen möglich wäre.
Logopäden sollten gut dokumentieren
In seiner groß angelegten Befragung von Betroffenen fand er mehrere Gründe. Manchen Patienten wird die Therapie einfach zu lästig, die lange Anfahrt zu aufwändig und die Erfolge zu wenig spürbar. Andere sind unzufrieden mit ihren Therapierenden oder berichten, dass man in ihrer hausärztlichen Praxis keinen Grund mehr für weitere Verordnungen sehe. Darkow appellierte deshalb an Logopädinnen und Logopäden, die Erfolge ihrer Arbeit gut zu dokumentieren und an Hausärztinnen und Hausärzte weiterzugeben.
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