„Viele Betroffene sind überfordert“

"Viele Betroffene sind überfordert"

Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe hat eine umfangreiche Befragung von Schlaganfall-Betroffenen in der Nachsorge durchgeführt. Christian Voigt ist Pflegewissenschaftler in der Versorgungsforschung der Stiftung. Im Interview fasst er wesentliche Erkenntnisse der Befragung zusammen.

Christian Voigt

Im Interview:
Christian Voigt
Pflegewissenschaftler in der Versorgungsforschung der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe

  • Herr Voigt, worum ging es der Stiftung bei der Befragung von Schlaganfall-Betroffenen?

Als Patientenorganisation verstehen wir uns als Stimme der Betroffenen. Wir haben eine recht gute Datenlage, wie es Patientinnen und Patienten in der Akut- und Rehaklinik geht. Doch zu den Langzeitverläufen nach Schlaganfall gibt es bisher wenig gesicherte Erkenntnisse. Wir haben den Betroffenen Fragen zu 39 möglichen Folgen des Schlaganfalls gestellt, ob sie davon betroffen sind und wo sie sich mehr Unterstützung wünschen. 

 

  • Um welche Folgen ging es dabei?

Zum Beispiel um die Bereiche körperliche Gesundheit, tägliche Aktivitäten oder Finanzen. Dabei wird deutlich, welche vielfältigen Auswirkungen der Schlaganfall hat, beispielsweise auf persönliche Beziehungen oder die gesellschaftliche Teilhabe. Wenn ich durch körperliche Beeinträchtigungen in meiner Mobilität eingeschränkt oder auf Hilfe angewiesen bin, wird es schwierig, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen.

 

  • Wie aussagekräftig sind die Ergebnisse?

Aus unserer Sicht sind sie sehr aussagestark. Fast 1.000 Betroffene haben teilgenommen. Im Durchschnitt lag ihr Schlaganfall bereits neun Jahre zurück. Das heißt, wir erhalten hier wirklich Einblicke weit in die häusliche Nachsorge hinein. Bei den Teilnehmenden handelt es sich um Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Stiftung in Kontakt stehen und freiwillig an der Befragung teilgenommen haben. 

 

  • Sind die Ergebnisse repräsentativ?

Streng wissenschaftlich betrachtet nicht für alle Schlaganfall-Betroffenen in Deutschland. Tatsächlich werden die Hilfebedarfe sogar größer sein, als unsere Ergebnisse das wiederspiegeln. Denn das Durchschnittsalter der Befragten war mit 56 Jahren zum Zeitpunkt des Schlaganfalls vergleichsweise jung. Über alle Betroffenen hinweg liegt das Durchschnittsalter beim Schlaganfall etwa bei 73 Jahren. Wir bieten viele Hilfen für jüngere Betroffene, deshalb sind sie in unserer Datenbank überrepräsentiert.

 

  • Was sind wesentliche Erkenntnisse der Befragung?

Es wird deutlich, dass der Schlaganfall eine chronische Erkrankung ist, die nicht mit dem Ereignis endet, sondern sehr langfristige Folgen hat. Durchschnittlich muss jeder Betroffene mit 11 verschiedenen Folgen umgehen. Rund 70 Prozent der Befragten wünscht sich bei mindestens einer Schlaganfall-Folge mehr Unterstützung. Und zwar unabhängig davon, ob der Schlaganfall kürzlich geschah oder bereits Jahre zurückliegt. 

 

  • Wobei benötigen die meisten Menschen Unterstützung?

Das größte Unterstützungsbedürfnis besteht mit 33 Prozent bei weiteren Rehabilitationsmaßnahmen.

 

  • Was speziell wünschen sich die Menschen?

Das kann eine weitere stationäre Rehabilitationsmaßnahme sein oder mehr ambulante Therapien, aber auch Beratung oder Hilfestellung bei der Antragstellung. An zweiter Stelle folgen die Konzentrationsstörungen. Mehr als die Hälfte der Befragten sind davon betroffen, rund 30 Prozent benötigen Unterstützung - zum Beispiel eine Ergotherapie, die den Betroffenen Übungen vermittelt, um im Alltag ihre Konzentration zu schulen. Ebenfalls sehr häufig wird die Steifheit von Armen und Beinen, die Spastizität, genannt. Fast die Hälfte der Befragten ist davon betroffen, ein Viertel wünscht sich Unterstützung. Auch da geht es um Behandlungen, die Spastik erfordert eine kontinuierliche Therapie.

 

  • Was hat sie am meisten überrascht?

Dass so viele Menschen so lange nach dem Schlaganfall Probleme haben, die Folgen ihrer Krankheit zu bewältigen, hätte ich nicht erwartet. 

 

  • Wie kann man sich diesen großen Unterstützungsbedarf erklären? 

Viele Betroffene und ihre Angehörigen sind mit der Organisation ihrer Nachsorge ganz offensichtlich überfordert. Man muss sich nur einmal in die Situation von Schlaganfall-Betroffenen hineinversetzen. Deren Leben wird von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt. Alltägliche Dinge sind plötzlich nicht mehr möglich, und in dieser Situation muss man sich intensiv mit dem Gesundheitssystem auseinandersetzen und Angebote finden. Das schaffen viele nicht.

 

  • Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ergebnissen?

Zum einen können wir jetzt gezielter an bestimmten Themen arbeiten und noch besser helfen. Auf der Versorgungsebene bestätigen die Ergebnisse die Arbeit unserer Schlaganfall-Lotsen. In den ersten 12 Monaten begleiten sie die Betroffenen, um den Übergang in die Nachsorge zu verbessern. Momentan kommen sie noch nicht allen Schlaganfall-Betroffenen zugute. Aber das Ziel ist es, Patientenlotsen in die Regelversorgung zu überführen.