Ein anderer Blick auf den Menschen

Prof. Dr. Friedrich Edelhäuser hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen seit 2004 das Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin an der Universität Witten/Herdecke aufgebaut. Mario Leisle sprach mit ihm über Möglichkeiten und Grenzen der Komplementärmedizin nach einem Schlaganfall.

Prof. Dr. Friedrich Edelhäuser

Im Interview:
Prof. Dr. Friedrich Edelhäuser
Neurologe und Leiter der Abteilung Frührehabilitation am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke

  • Herr Prof. Edelhäuser, wie sind Sie zur Anthroposophischen Medizin gekommen?

Mein Interesse für die Komplementärmedizin wurde im Zivildienst geweckt, in einer anthroposophischen Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Ich habe dort das erste Mal den Eindruck gewonnen, dass die Persönlichkeit des Menschen nicht nur als ein materielles Gebilde gesehen wird. Das hat mich sehr angesprochen.

  • In der Schulmedizin sind viele Medikamente oder Therapien millionenfach erprobt und bewiesen. Das kann die Komplementärmedizin nicht bieten.

Das ist richtig. Man muss in der Medizin auf der Höhe der Zeit sein, sich am aktuellen Stand der Wissenschaft orientieren. Aber man sollte dabei auch offen bleiben für andere Blickwinkel. An der Universität Witten/Herdecke bilden wir Ärztinnen und Ärzte ganz klassisch aus. Wer möchte, kann parallel das Begleitstudium „Integrative Anthroposophische Medizin“ absolvieren. Der strenge naturwissenschaftliche Blick soll dadurch in keiner Weise aufgeweicht werden, aber erweitert um Aspekte des Lebendigen, des Seelischen und des Geistigen.

  • Was unterscheidet diese unterschiedlichen Formen der Medizin?

Es geht um das Verständnis, wie der menschliche Organismus funktioniert. Der strenge naturwissenschaftliche Blick kennt vor allem Reize und Reaktionen. Die Anthroposophische Medizin sagt darüber hinaus, die Psyche des Menschen beeinflusst massiv seinen Organismus. Dafür gibt es heute zahllose Beispiele. Wer nach der Operation in einem sonnigen Zimmer liegt, wird im Schnitt früher entlassen und benötigt weniger Schmerzmittel als derjenige, der auf der Schattenseite der Station liegt. Die Wirklichkeit zeigt uns bei jeder Gelegenheit, dass die psychische Seite eine eigene Ebene ist. Und die Effekte, die sich daraus ergeben, sind in der Anthroposophischen Medizin von vornherein eingepreist.

  • Lässt sich die Wirkung komplementärmedizinischer Methoden messen?

Vieles lässt sich messen, ja. Wenn Patienten in der Kunsttherapie sind, kann man beispielsweise die Atmungstiefe oder die Herzfrequenz-Variabilität untersuchen. Aber man sollte auch die Patientenperspektive einbeziehen und fragen: „Wie erleben Sie das selbst?“ Das ist ein Stück Zukunft: den objektiven Datensatz und das subjektive Erleben zusammenzubringen. Man wird sehen, dass das besser ist, als nur eine Seite davon zu nutzen.

  • Sie leiten eine neurologische Frührehabilitation mit schwer betroffenen Patientinnen und Patienten. Was machen Sie dort anders als andere Kliniken?

Zunächst einmal empfangen wir unsere Patienten, wenn es irgendwie geht, nicht mit einer technischen Untersuchung mit Schmerzkneifen und anderen Prozeduren, sondern mit einer rhythmischen Massage. Das ist ein ganz anderes Ankommen für sie. Wenn es gut läuft, kann man am Monitor beobachten, wie Puls und Blutdruck runtergehen. Wir machen dann immer auch eine soziobiographische Anamnese. Wenn wir eine Therapiebesprechung haben, kommt die Persönlichkeit des Patienten dort mit vor.

  • Welche komplementären Methoden wenden Sie in der Therapie beispielsweise an?

Ein wichtiger Punkt sind die sogenannten äußeren Anwendungen. Das ist zum Teil traditionelle Hausmedizin: ein Brustwickel, ein Nierenwickel, die Einreibung mit einem pflanzlichen Schmerzöl, das Auflegen von Kohlblättern. Wir haben uns ein Stationsbad einbauen lassen. Dort können wir ätherische Öle mit in die Wanne geben. Für Patienten, die über viele Wochen auf der Station liegen, ist das eine Wohltat. Das merkt man ihnen noch zwei, drei Tage lang an. Hinzu kommen berührende Verfahren wie die rhythmische Massage, die sind grundsätzlich erst einmal gut. In der Anthroposophischen Medizin nutzen wir auch ergänzende Medikamente aus dem pflanzlichen Bereich. Da haben wir immer mal wieder schöne Behandlungserfolge. Und wir achten auf Kontextfaktoren, die Gesundheit wesentlich beeinflussen. Bei der Ernährung geht es nicht nur um die Zusammensetzung der Kost, sondern auch um Qualität, um eine frische, wohlschmeckende, gesunde Kost.

  • Spielen gestalterische Verfahren eine Rolle?

Auch. Musik- und Kunsttherapie sind zwei Verfahren, die mittlerweile auch in der Schulmedizin breite Anerkennung finden. Man kann sich vorstellen, wenn man aus dem Koma wieder aufwacht, dass man sich seelisch in so einem geordneten Bild mit schönen Farben wiederfinden kann.

  • Ist Selbsthilfe aus Ihrer Sicht ein wichtiger Baustein?

Ja, im Grunde auf eine recht radikale Art. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied zum schulmedizinischen Ansatz. Der Akteur im Gesundungsprozess ist eigentlich immer der Patient. Er ist der eigentliche „Leistungserbringer“, aus dem Gesundheit generiert wird. Natürlich können wir ihn beatmen und Bluttransfusionen geben, aber das dient nur der Überbrückung, bis der Organismus wieder selbstständig die Steuerung übernimmt. Das ist etwas, was ich auch erst lernen musste.

  • Komplementärmedizin ist ein Sammelbecken unterschiedlichster Verfahren. Nicht alle sind seriös. Wie können Laien das Gute von dem weniger Guten unterscheiden?

Eine sehr relevante Frage, sie ist nicht leicht zu beantworten. Man sollte vor allem schauen, ob da eine medizinische Ausbildung oder eine etablierte therapeutische Qualifikation im Hintergrund ist, also eine solide Fachlichkeit. Dann sollte man nicht an Wunderheilungen glauben. Es gibt immer mal wieder erstaunliche Verläufe, aber in aller Regel sind diese Genesungen gut verstehbar. Also wenn mir allzu große Erfolge versprochen werden, ist Skepsis angebracht. Es gibt leider auch Methoden, die einem in erster Linie das Geld aus der Tasche ziehen.

 

Herr Prof. Edelhäuser, vielen Dank für dieses Gespräch.