Im Interview
Anna Engel
Reha- und Nachsorge-Expertin der Schlaganfall-Hilfe
Frau Engel, die Deutsche Schlaganfall-Hilfe hat die qualifizierte Hilfsmittelversorgung zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Warum ist sie so wichtig?
Nach einem Schlaganfall steht die Rehabilitation der Betroffenen im Vordergrund. Dabei geht es darum, verloren gegangene Fähigkeiten durch gezielte Therapien bestmöglich wiederherzustellen. In der neurologischen Rehabilitation haben wir in den vergangenen Jahren riesige Fortschritte gemacht. Dennoch sind die Folgen eines Schlaganfalls nicht immer heilbar, deshalb haben Hilfsmittel in der langfristigen Schlaganfall-Versorgung eine zentrale Bedeutung.
Wann sind Menschen auf Hilfsmittel angewiesen?
Das ist individuell ganz unterschiedlich. In der Regel merken Betroffene selbst am besten, wenn sie an ihre Grenzen stoßen und sie sich nicht mehr wesentlich verbessern können. Das ist der Punkt, an dem sie über den Einsatz von Hilfsmitteln nachdenken und sich an ein Sanitätshaus wenden sollten.
Gibt es Betroffene, die sich dennoch gegen Hilfsmittel entscheiden?
Selbstverständlich. Da sind zum einen diejenigen, die Hilfsmittel immer noch stigmatisierend finden. Hilfsmittel signalisieren: Ich habe ein Defizit! Und ich kenne niemanden, der gern mit seinen Defiziten öffentlich hausieren geht. Aber es gibt auch die anderen, die sich ganz bewusst gegen ein Hilfsmittel entscheiden, weil es ihnen nicht so wichtig erscheint.
Diese Menschen nehmen also in Kauf, dass sie sich schlechter fortbewegen oder Probleme beim Greifen behalten?
Ja, das ist immer eine persönliche Entscheidung und eine Frage der Lebensqualität. Früher hat man in der Rehabilitation ein Idealbild verfolgt, wie jemand gehen oder greifen sollte. Heute fragen wir die Patienten: Was ist Ihnen persönlich denn wichtig in Ihrem Leben? Wenn sie mit ihrem Defizit klarkommen und es sie im Alltag nicht besonders stört, warum sollten wir ihnen dann ein Hilfsmittel aufschwatzen, das am Ende vermutlich in der Ecke landen würde.
Sie würden also nicht vorbehaltlos den Einsatz von Hilfsmitteln empfehlen?
Nicht in jedem Fall, nein. Ich würde aber immer erörtern, woher die Ablehnung kommt. Geht es tatsächlich um Scham, würde ich den Betroffenen und ihren Angehörigen immer zureden, es zumindest einmal zu probieren. Viele geben ihre Weigerung auf, wenn sie spüren, wie gut ihnen das Hilfsmittel tut.
Menschen verändern sich im Lauf der Zeit. Was bedeutet das für die Hilfsmittelversorgung?
Eine gute Versorgung sollte das immer berücksichtigen. Meist denkt man dabei an Verschlechterungen, allein aufgrund des fortschreitenden Alters der Betroffenen. Aber es gibt durchaus auch das Gegenteil, gerade in der ersten Zeit nach einem Schlaganfall. Dass Patienten beispielsweise nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen sind, mit dem sie noch in die Rehaklinik gebracht wurden.
Ist Hilfsmittelversorgung also ein fortwährender Prozess?
Ja, das ist mir ganz besonders wichtig. In früheren Zeiten konnte es vorkommen, dass Sanitätshäuser ein Hilfsmittel verkauft haben und den Kunden viel Glück damit wünschten. Das hat sich stark verändert, das Grundverständnis einer guten Versorgung sieht heute anders aus. Eine regelmäßige Anpassung der Hilfsmittel ist für viele Teil des Prozesses.
Die Schlaganfall-Hilfe will die Hilfsmittelversorgung verbessern. Wo hapert es weiterhin?
Da gibt es noch einige Baustellen. Es fängt bei der Information an. Viele Betroffene sind über die Möglichkeiten von Hilfsmitteln nicht informiert. Sie kennen weder die große Produktpalette noch wissen sie, wo sie spezielle Hilfsmittel erhalten können und was ihnen zusteht.
Woran liegt das?
Die Experten in Sachen Hilfsmittel arbeiten im Sanitätshaus. Dahin gehen Patienten aber erst in der Nachsorge. In der Akutklinik spielen Hilfsmittel noch keine große Rolle, in der Rehaklinik schon eher.
Was sollte sich ändern?
Es geht im Grunde darum, den gesamten Prozess der Hilfsmittelversorgung als Teamwork zu verstehen, interdisziplinär. Sanitätshaus, Therapeuten und Ärzte sollten zusammenarbeiten, nur so kann die Versorgung optimal gelingen. Die Aufklärung sollte bereits in der Akutklinik beginnen. Viele der Sanitätshäuser, die an unserer Qualifizierung teilnehmen, denken und arbeiten bereits so. Sie haben ein gutes Netzwerk, bilden Therapeuten fort und binden sie bei der Versorgung der Patienten ein.
Die Verordnung muss am Ende aber über Ärztinnen und Ärzte erfolgen...
Richtig. Aber die sind häufig dankbar für Empfehlungen der Fachleute in den Sanitätshäusern, manchmal auch aus Therapiepraxen. Das Hilfsmittelverzeichnis umfasst aktuell 41.000 Produkte, das kann kein Arzt mehr überblicken. Und moderne Techniken wie Elektrostimulation oder 3-D-Druck schreiten rasant voran, damit muss man sich intensiv beschäftigen, um die individuell passende Versorgung zu finden.
Moderne Hightech-Orthesen kosten fünfstellige Summen. Krankenkassen beklagen manchmal eine Überversorgung. Zu recht?
Die größeren Herausforderungen aus meiner Sicht sind immer noch die Unter- und Fehlversorgung, Gründe dafür habe ich genannt. Aber natürlich gehört es auch zur Wahrheit, dass es Fälle von Überversorgung gibt. Kostspielige Techniken können falsche Anreize bieten. Deshalb sind die medizinische Notwendigkeit und eine bedarfsgerechte Versorgung weiterhin von zentraler Bedeutung. Ich erlebe allerdings bei den Unternehmen, die mit uns kooperieren, dass sie das sehr verantwortungsvoll handhaben. Nicht jeder Patient profitiert von einer funktionellen Elektrostimulation, und wenn das im Beratungsprozess deutlich wird, rücken sie im Sinne ihrer Kunden auch davon ab.
Frau Engel, herzlichen Dank für dieses Gespräch.